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Redaktion: Heinz Schmitz


Mit KI Schwarmverhalten verstehen

Heuschreckenschwarm
Das Schwarmverhalten von Heuschrecken wird mittels KI nachbildet. (Quelle: Iwoelbern/Wikimedia)

Seit einigen Jahren schon forschen Prof. Dr. Thomas Müller und Prof. Dr. Hans Briegel an einem maschinellen Lernmodell, das sich wesentlich von alternativen Lernmodellen der Künstlichen Intelligenz (KI) unterscheidet. Der Konstanzer Philosoph und der Theoretische Physiker von der Universität Innsbruck kombinieren darin Methoden einer philosophischen Handlungstheorie und der Quantenoptik. Anwendungen des Lernmodells „Projective Simulation“ in der Grundlagenforschung waren bereits erfolgreich. Nun konnten die beiden Wissenschaftler gemeinsam mit der Innsbrucker Physikerin Dr. Katja Ried das KI-Modell auf eine Weise anpassen, dass es auf eine realistische Weise auch auf biologische Systeme anwendbar ist. In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsjournals PLoS One ist nachzulesen, wie mit dem Lernmodell ein bestimmtes Schwarmverhalten von Heuschrecken modelliert und reproduziert werden kann.

 

Forderung nach „biologienäheren“ Modellen

Das Fallbeispiel der interdisziplinären Kooperation beruht auf Daten des Konstanzer Exzellenzclusters „Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour“, dessen Forschung zu Schwarmverhalten international führend ist und der seit Anfang 2019 im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert wird. Gerade von Seiten der Biologie ist immer wieder die Forderung zu hören, die Modelle zur Erklärung von kollektivem Verhalten „biologienäher“ zu bauen. Die aktuell gängigen, überwiegend physikalisch motivierten Modelle nehmen für das Verhalten der Individuen untereinander eine physikalische Kraft an. Entsprechend sehen sie in den Individuen innerhalb eines Schwarmes keine Agenten, sondern Punkte, etwa Magnetisierungseinheiten auf einem Gitter, die durch Wechselwirkung miteinander verbunden sind. „Die Modelle funktionieren gut in der Physik und haben dort eine gute empirische Grundlage. Sie entsprechen jedoch nicht der Wechselwirkung zwischen biologischen Individuen“, sagt Thomas Müller.

 

KI-Regeln ermöglichen lernfähige Agenten

Das Lernmodell „Projective Simulation“, das ursprünglich von Hans Briegel entwickelt wurde, geht dagegen von Agenten aus, die keine vorprogrammierte Reaktion auf ein Ereignis zeigen, sondern sich als lernfähig erweisen. Sie sind als Individuen mit unterschiedlichen Verhaltensdispositionen codiert, die mit ihrer Umgebung über Wahrnehmungen und Handlungen interagieren und auf den sensorischen Input reagieren. Dazu sind sie mit KI-Regeln ausgestattet, die ihnen erlauben, die Antworten aufgrund früherer individueller Erfahrungen selbst zu modifizieren.

 

Dieser Lernprozess beruht einerseits auf Zufallsprozessen, wie sie in der Quantenphysik genutzt und mit denen sämtliche Handlungsoptionen durchgespielt werden. Auf der anderen Seite kommt das handlungstheoretische Prinzip des bestärkenden Lernens (reinforcement

learning) zum Einsatz, das über Belohnungen funktioniert. „Wir belohnen, wenn der Agent sich auf wohlgeformte Weise mit den anderen bewegt. Mit der Zeit merkt der: Wenn ich bestimmte Dinge wahrnehme, ist es im Sinne der Belohnung besser, auf eine bestimmte Weise zu reagieren. Wir geben damit nicht vor, was in welcher Situation richtig ist, sondern wir sorgen dafür, dass es sich durch die Interaktion der Agenten untereinander ergibt“, sagt Thomas Müller.

 

Lernmodell kann Schwarmverhalten reproduzieren

Thomas Müller, Hans Briegel, der aktuell mit einer dreijährigen Gastprofessur am Konstanzer Fachbereich Philosophie forscht, und Katja Ried haben dieses Lernmodell auf ein gut erforschtes Schwarmverhalten von Heuschrecken übertragen. Danach hängt das Verhalten der Tiere in einem engen Raum von ihrer Anzahl ab. Sind sie wenige, laufen sie durcheinander. Werden sie mehr, laufen sie im Block. Sind es ganz viele, laufen sie im Block immer in dieselbe Richtung. Für die Modellierung wurden noch keine Rohdaten, sondern eine qualitative Beschreibung des Verhaltens der Heuschrecken herangezogen. Den Wissenschaftlern ging es zunächst darum, das Lernmodell zu testen. Tatsächlich konnten sie damit das Verhalten der Heuschrecken qualitativ reproduzieren.

 

Für die Zukunft kann sich Thomas Müller allerdings vorstellen, auch mit großen Datensätzen zu arbeiten, etwa mit Fischschwärmen und ihren reichhaltigen Verhaltensmustern. Thomas Müller: „Wahrscheinlich wären Fische ein guter, aber auch sehr komplizierter nächster Schritt, um unser Lernmodell immer realistischer zu machen.“

 

Originalveröffentlichung:

Katja Ried, Thomas Müller, Hans J. Briegel: Modelling collective motion based on the principle of agency: General framework and the case of marching locusts. February 20, 2019.

https://doi.org/10.1371/journal.pone.0212044

 

 

Bildnachweis: Iwoelbern - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link

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