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Redaktion: Heinz Schmitz


Die innere Uhr in der Musik

Musik
Echte Musik läuft unter komplexeren Bedingungen ab und der musikalische Kontext, sowie das Genre spielen vermutlich eine Rolle. (Quelle: Radfotosonn/Pixabay)

Musiker geben Rhythmen nicht mit der Genauigkeit einer Maschine wieder, kleine Schwankungen machen einen Teil der menschlichen Musikperformance aus. Ohne solche Schwankungen, die sogenannten Mikroabweichungen vom perfekten Rhythmus, wirkt Musik auf uns meist künstlich und ausdruckslos. Göttinger Forscher aus dem Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation (MPIDS) und dem Bernstein Zentrum für Computergestützte Neurowissenschaften (BCCN) haben mehr als Einhundert Aufnahmen aus den Bereichen Jazz, Rock und Pop analysiert und festgestellt, dass die Mikroabweichungen in den gespielten Rhythmen einer universellen, genreunabhängigen Gesetzmäßigkeit folgen. Auf verschiedenen Zeitskalen sind zwei verschiedene Prozesse in unserem Gehirn für die Schwankungen verantwortlich. Dieses Ergebnis ist kürzlich in dem Fachmagazin Plos ONE erschienen.

 

Den Zauber der Musik besser verstehen

Aus allen von Menschen erschaffenen Künsten ist die Musik wahrscheinlich die am wenigsten greifbare. Die subtile Mischung aus Klang und Stille, aus Vorschrift und Interpretation, aus erfüllter Erwartung und Überraschung berührt unser Herz, lässt uns träumen und bringt oft unerwartete Emotionen in uns hervor. Ein Team des MPIDS und BCCN um Viola Priesemann, Leiterin einer Max Planck Forschungsgruppe und Theo Geisel, Emeritus Direktor am MPIDS ergründet die Geheimnisse der Musik mit Methoden der statistischen Physik und der sogenannten Chaos-Theorie, um ihren Zauber nicht nur spüren, sondern auch besser verstehen zu können. Obwohl Musik ein scheinbar endloses Streben nach Perfektion darstellt, treten bei Aufführungen kleine, teilweise nur in tausendstel Sekunden messbare Abweichungen und Temposchwankungen auf, die der Musik das gewisse Etwas geben.

 

Aus dem Labor auf die Bühne

In einer früheren umfangreichen Studie, in der Musiker unterschiedlich komplizierte Rhythmen unter Laborbedingungen nach einem Metronom trommeln mussten, fanden die Göttinger Forscher, dass diese Abweichungen auf sehr langen Zeitspannen miteinander zusammenhängen und einander beeinflussen können. „Es ist als hätte das menschliche Gehirn ein nachhaltiges Gedächtnis für diese Abweichungen,“ kommentiert Theo Geisel. Diese bemerkenswerten Ergebnisse unter Laborbedingungen ermöglichten den Wissenschaftlern in der Vergangenheit einen neuen „Humanizer“ zu entwickeln, ein Programm, das computergenerierte Rhythmen „vermenschlicht“. Doch dies war nur der Anfang eines spannenden Projekts.

 

Echte Musik läuft unter komplexeren Bedingungen ab und der musikalische Kontext, sowie das Genre spielen vermutlich eine Rolle. Oft werden Stücke von mehreren, gleichzeitig miteinander interagierenden Menschen gespielt. Es entsteht ein gemeinsamer Rhythmus, ohne dass ein Metronom diesen von außen vorgeben müsste. Göttinger Forscher haben jetzt den wichtigen Schritt aus dem Labor in die wirkliche Welt der komplexen Musikperformance unternommen und haben dafür mehr als Einhundert Originalaufnahmen von Jazz, Rock und Pop Stücken analysiert, die zumeist ohne Metronom, also ohne äußere Taktgebung, von den Bands aufgenommen wurden. “Wir haben aus den Aufnahmen die Folge der Schläge des Schlagzeugbeckens extrahiert, welche die rhythmische Grundlage des Musikstücks bilden, und die Zeitabstände zwischen zwei aufeinander folgenden Schlägen auf die tausendstel Sekunde genau gemessen, um kleinste Rhythmusabweichungen innerhalb einer Musikaufnahme quantifizieren zu können“, erläutert Viola Priesemann die wissenschaftliche Vorgehensweise. Eine durchschnittliche Aufnahme enthält ungefähr 500 bis 1000 Beckenschläge. Die Auswertung der so gewonnenen Zeitreihen hat erstaunliche Einsichten in die komplexe Musikperformance der Bands gegeben.

 

Metronom im Kopf

Die Langzeitkorrelationen der Schwankungen, die den Forschern schon im Labor aufgefallen waren, konnten auch in den echten Musikstücken nachgewiesen werden. Die Ergebnisse zeigen außerdem, dass diese Schwankungen grundsätzlich von zwei in sich überlagerten Prozessen gesteuert werden. Zum einen ist es eine innere Uhr, welche uns im Kopf den Zeitrahmen vorgibt und zum anderen ist es ein motorischer Prozess, welcher unsere Fähigkeit einen Ton oder Schlag zum gewünschten Zeitpunkt auszuführen, kontrolliert. Erstmalig zeigen die MPIDS – Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass diese beiden Prozesse innerhalb eines Musikstücks auf unterschiedlichen Zeitskalen hervortreten.

 

Betrachtet man den ersten und einige unmittelbar danach folgende Beckenschläge, so sind die rhythmischen Variationen in diesem Zeitrahmen hauptsächlich durch den motorischen Prozess bestimmt. Auf langen Zeitskalen, also beim Vergleich der Schwankungen zwischen z.B. den ersten beiden und den letzten beiden Beckenschlägen, wird der durch die innere Uhr gesteuerte Prozess dominant. Auf lange Sicht kann der Rhythmus nur die durch diese Uhr vorgegebene Präzision erreichen. „Wird aber in einem Musikstück der Takt durch einen Metronom vorgegeben, so übernimmt dieser die Rolle der inneren Uhr und die Genauigkeit des gespielten Rhythmus wird allein durch den motorischen Prozess gesteuert. Das zeigen die Grafiken sehr deutlich“, sagt Erstautor Mathias Sogorski. Das Zusammenspiel dieser beiden Prozesse scheint eine charakteristische Gesetzmäßigkeit zu sein, die ganz unabhängig vom Genre unsere „freie“ Musikwiedergabe beeinflusst.

 

Musikgenres unter der Lupe

Obwohl beide Prozesse universell aufzutreten scheinen, verglichen die Forscher die untersuchten Genres miteinander. Sie stellten fest, dass Jazz-Stücke im Unterschied zu Rock- und Pop-Songs, auf kurzen Zeitskalen innerhalb eines Takts deutlich höhere, vom motorischen Prozess charakterisierte, rhythmische Variationen aufweisen. Die Ursache dieses signifikanten Unterschieds liegt wahrscheinlich darin, dass Jazzmusiker stärker dazu tendieren, die Mikroabweichungen vom gegebenen Rhythmus zu benutzen, um einem Musikstück die persönliche Note zu verleihen, wohingegen man sich bei Pop und Rock weniger rhythmische Freiheiten nimmt.

 

Auf langen Zeitskalen, wo unsere innere Uhr den Zeitrahmen vorgibt, ist der Genreunterschied verschwunden. „Es ist interessant, dass diese Langzeitschwankungen der Stücke immer ähnlich zu sein scheinen – egal ob es sich um ein Jazz oder Rock Stück handelt“, sagt Viola Priesemann, „Sie sind charakteristisch für unsere innere Uhr.“ Auf kurzen Zeitintervallen jedoch gehören die Rhythmusschwankungen zu den stärksten Mitteln musikalischer Individualität und persönlichen Ausdrucks. Durch solche Schwankungen erschaffen wir immer wieder den vielfältigen und faszinierenden Zauber der Musik.

 

Originalveröffentlichung:

Mathias Sogorski, Theo Geisel and Viola Priesemann, "Correlated microtiming deviations in jazz and rock music", Plos ONE (24.01.2018), doi: 10.1371/journal.pone.0186361

http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0186361

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