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Redaktion: Heinz Schmitz


Mitdenkende Räder für Rollstuhl bis Einkaufswagen

Überall, wo Menschen auf Räder angewiesen sind, kann die neue Technologie die Fahrt, das Lenken oder den Transport erheblich erleichtern. (Quelle: Oliver Dietze, Universität des Saarlandes)

Matthias Nienhaus (r) und Eric Peleikis (l) inmitten von Forschungsobjekten: Überall, wo Menschen auf Räder angewiesen sind, kann die neue Technologie die Fahrt, das Lenken oder den Transport erheblich erleichtern. (Quelle: Oliver Dietze, Universität des Saarlandes)

 

Voll beladene Einkaufswagen können erstaunlich widerspenstig sein. Im Baumarkt mehrere Sack Zement zur Kasse zu chauffieren, lässt einen in Kurven wenig elegant aussehen. Die Physik der Trägheit stiehlt einem hier die Show. Schon das Anfahren stößt auf Widerstand. Ist der Wagen erst in Fahrt, will er freiwillig weder in die eine, noch die andere Richtung, geschweige denn anhalten. Auch andernorts kann der Transport auf Rädern das Leben, den Alltag oder die Arbeit schwermachen: Krankentransporte mit sperrigen Notfallliegen, Krankenbetten oder -stühlen verlangen Pflegepersonal und Rettungsdiensten einiges an Geschick und Krafteinsatz ab. Und auf wenig barrierefreien Wegen samt Steigung und Gefälle ist die Fahrt mit Rollstuhl, Rollator oder Kinderwagen mühevoll.

 

Eine neue Technologie, die das Forschungsteam von Professor Matthias Nienhaus an der Universität des Saarlandes entwickelt, kann überall dort, wo Menschen auf Räder angewiesen sind, die Fahrt, das Lenken und den Transport schwerer Transportgüter erheblich erleichtern. „Mit zwei Fingern lassen sich mit unserem Verfahren Lasten von 500 Kilogramm sicher bewegen und manövrieren. Wir setzen dabei auf das Zusammenspiel von intelligenten Rädern und einem Sensorgriff“, erklärt Matthias Nienhaus.

 

Die Räder, die der Antriebstechniker mit seinem Team entwickelt hat, wissen ohne zusätzliche Sensoren, wann sie mit wie viel Anschub die Fahrt etwa um Kurven oder bergauf unterstützen müssen. Sie beschleunigen oder bremsen, drehen langsam oder schneller je nach Bedarf – und zwar jedes Rad für sich oder im Team mit den anderen Rädern. „Wir nutzen hierzu die Elektromotoren im Inneren der Räder selbst als Sensor. Diese liefern uns sämtliche Messdaten, die wir benötigen. Das macht unser Verfahren besonders leistungsfähig und auch kostengünstig“, erläutert Matthias Nienhaus.

 

In mehreren Forschungsprojekten gingen die Forscherinnen und Forscher der Frage auf den Grund, wie sie aus den elektromagnetischen Antrieben möglichst viele Daten herauslesen können: zum Beispiel darüber, wie das elektromagnetische Feld an bestimmten Punkten im Motor verteilt ist, und wie es sich beim Rollen verändert. Sie sammelten zahllose solcher Messwerte, die in den Elektroantrieben der Räder ohnehin anfallen, während sie sich drehen, und ordneten sie bestimmten Motorzuständen und Radstellungen zu. Mithilfe dieser Daten können die Antriebstechniker Verschiedenstes ablesen: Die Zahlenkolonnen verraten ihnen, wie die Position der Räder sich ändert, mit welcher Kraft die Antriebe laufen oder ob die Räder auf einer Seite mehr belastet werden.

 

Aus der Datenmasse identifizierten sie Signalmuster, die sie typischen Abläufen zuordneten. Anhand dieser Muster und Daten können sie mithilfe mathematischer Modelle und intelligenter Algorithmen Zustände des Motors exakt beschreiben und so die Antriebe ansteuern oder überwachen, ob sie einwandfrei funktionieren. „Wir können die Räder sehr effizient ansteuern und ihre Funktion im Auge behalten“, sagt Matthias Nienhaus. Ein Verfahren, mit denen sie die Daten aus dem Motor noch aussagekräftiger machen und Störeffekte herausrechnen können, meldeten er und sein Team zum Patent an.

 

Über einen neu entwickelten Sensorgriff, den sie auf der Hannover Messe zeigen, schafft das Team eine Schnittstelle zum Menschen, der steuert, und so intuitiv eine gewünschte Richtung vorgeben kann: Im Sensorgriff sitzt die Schaltzentrale, der „Master“ des Systems. Der Sensorgriff kann an beliebiger Stelle an einem Elektromobil angebracht werden, also etwa am Krankenstuhl oder Einkaufswagen.

 

Der Griff misst Kräfte mehrdimensional in alle Richtungen. „Wir haben hierfür ein robustes und zugleich feinfühliges kapazitatives Messverfahren erforscht, entwickelt und aufgebaut“, erklärt Matthias Nienhaus. Hierdurch erkennt der Griff, wie stark und in welchem Winkel er gezogen, gedrückt, bewegt oder seitlich um die eigene Achse gedreht wird. Ein Fahrer vermittelt so ganz natürlich, welche Unterstützung er braucht. Der Griff weiß via Handerkennung auch, ob eine menschliche Hand ihn ergreift oder nicht, und kann so vorschriftsmäßig reagieren.

 

Anhand der Fahrinformationen, die der Mensch über den Sensorgriff intuitiv auf das zu bewegende Fahrzeug überträgt, berechnet die Elektronik, ob und wie genau die Elektromotoren welcher Räder sich einschalten müssen, mit welcher Leistung welches Rad sich in welche Richtung wie langsam oder schnell drehen muss. Verbunden über ein sogenanntes Datenbussystem arbeiten dabei mehrere Räder im Verbund zusammen. „Auf diese Weise lassen sich beliebig viele Räder einzeln oder im Team ansteuern und damit auch sehr große Lasten sicher manövrieren“, erläutert Nienhaus.

 

Entsprechende Befehle gibt der Griff an die Räder weiter, die nun automatisch den schiebenden Menschen dabei unterstützen, etwa den vollgepackten Einkaufswagen elegant um die Kurve gleiten zu lassen. Auch Notfallliegen oder Krankenbetten erreichen so kontrolliert und ohne unfreiwillige Kollisionen mit Wänden ihr Ziel. „Alles funktioniert wie gewohnt, nur dass unser System aus intelligenten Rädern und intuitiv bedienbarem Sensorgriff alles viel leichter von der Hand gehen lässt“, sagt Matthias Nienhaus.

 

Siehe auch:

https://www.uni-saarland.de/lehrstuhl/nienhaus.html

https://www.wellgo.de/

 

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