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Redaktion: Heinz Schmitz


Informatik gegen kriminelle Netzwerke

Informatik kann der Justiz helfen Zwei Studien zeigen auf, wie eine soziale Netzwerkanalyse der Justiz helfen gefährliche und mächtige kriminelle Vereinigungen zu zerschlagen. (Quelle: Edward Lich/Pixabay/hiz)

 

Organisiertes Verbrechen, Terrorgruppen, Straßenbanden: Die Netzwerke von kriminellen Vereinigungen zu rekonstruieren und Mitglieder wie Hierarchien zu erkennen, ist angesichts verlässlicher und aussagekräftiger Daten eine der schwierigsten polizeilichen Herausforderungen weltweit. Zwei Studien zeigen auf, wie eine soziale Netzwerkanalyse der Justiz helfen kann, gefährliche wie mächtige kriminelle Vereinigungen zu zerschlagen.

 

Mögliche schwache Glieder oder Anführer in kriminellen Netzwerken auszumachen, die Wirtschaft und Gesellschaft unterwandern: eine Herkulesaufgabe, an der Ermittlern bei Polizei und Justiz oft scheitern. Denn die Rekonstruktion der Beziehungen innerhalb solcher kriminellen Organisationen gehört zu den heikelsten und kompliziertesten Aufgaben der Ordnungshüter. Unterstützung könnten nun neueste Entwicklungen in der Informatik und Datenanalyse bringen. Prof. Antonio Liotta, Experte für die Analyse von Big Data und komplexen Netzwerken und Dozent für Data Science an der Fakultät für Informatik der Freien Universität Bozen, hat gemeinsam mit Kollegen mehrerer Universitäten (Università di Messina, Università di Palermo, University of Derby, Shanghai Ocean University, Edinburgh Napier University) die beiden Studien "Disrupting resilient criminal networks through data analysis: The case of Sicilian Mafia" (erschienen in PLOS ONE) und "Criminal Networks Analysis in Missing Data scenarios through Graph Distances"  veröffentlicht. Darin wird aufgezeigt, wie kriminellen Netzwerken mit Wissensgraphen das Handwerk gelegt werden könnte.

 

Das Problem fehlender Daten

Wer kriminelle Organisationen anhand bestehender Daten analysieren möchte, steht vor dem Dilemma mangelnder Datensätze. Aus offensichtlichen Gründen bestehen keine großen Datenbanken, die den Aufbau krimineller Organisationen strukturiert beschreiben, sind doch Daten in Ermittlungs- und Gerichtsakten schwer zugänglich. „Wer zur kriminellen Welt gehört, verwischt, verdunkelt und verändert Daten ganz gezielt", erklärt Prof. Antonio Liotta. „Man denke nur an die Kommunikation innerhalb von Banden oder Terrorgruppen. In Abhöraktionen hören die Ermittler oftmals nur die Stimme von Mittelsmännern, nicht aber jene des kriminellen Chefs selbst, weswegen sich die Identifizierung des Anstifters eines Verbrechens äußerst schwierig gestaltet. In anderen Fällen kommuniziert der Clan-Chef wiederum mit einer Person, die nicht Teil des kriminellen Netzwerks ist."

 

Darüber hinaus stellten die Forscher fest, dass kriminelle Netzwerke vom strukturellen Standpunkt aus vergleichbar mit neuronalen Netzwerken seien, in denen die Informationen effizient von Knoten (Neuron) zu Knoten weitergeben. In beiden Fällen handelt es sich um Netzwerke des Typus „nicht skaliert", was selbst bei großen und komplexen Netzwerken kurze Wege erlaubt. Auch Richter Giovanni Falcone wusste um die raffinierten Strategen an der Spitze des organisierten Verbrechens und stellte die Kernfrage, wie zwischen Anführern, untergeordneten Rollen und Personen, die keiner kriminellen Vereinigung zuzuordnen sind, unterschieden werden könne.

 

Dabei ist das Verständnis eines jeden Knotenpunkts des Netzwerks essenziell, da aufgrund dieser grundlegenden Definitionen die Polizei beispielsweise eine isolierte Verhaftung oder eine groß angelegte Razzia anordnet. Falsche Schlüsse ziehen mit sich, dass eine künftige Verhaftung von Schlüsselfiguren sich wesentlich schwieriger gestaltet. Hier setzten Prof. Liotta und Professoren der Universitäten Messina und der Universität von Derby an, indem sie die Perspektive umkehrten und die Netzwerke auf soziale Zusammenhänge hin analysierten.

 

Nachbildung des kriminellen Netzwerks zweier sizilianischer Clans aufgrund eines Wissensgraphen

In ihrem ersten wissenschaftlichen Artikel "Disrupting resilient criminal networks through data analysis: The case of Sicilian Mafia" rekonstruierten Liotta und seine Kollegen die Funktionsweise des Beziehungsnetzes eines Mafia-Clans. Dazu arbeiteten sie an einem konkreten Fall: Sie sichteten und kopierten manuell die Daten von Tausenden Seiten an Prozessakten zu den Mitgliedern der Mafiafamilie „Mistretta" und des „Batanesi"-Clans. Diese sind im Rahmen der Operation "Mountain" Anfang der 2000er Jahre verhaftet, in Messina vor Gericht gestellt und verurteilt worden. Ausgehend von diesen beiden Datensätzen und basierend auf Telefonabhörungen und Überwachungen erstellten sie mit einem Algorithmus einen Wissensgraphen, der das kriminelle Netzwerk der beiden Clans darstellte. Gemäß dieser grafischen Darstellung war es durch eine topologische Analyse möglich, nicht offensichtliche Wechselwirkungen zu erkennen und so den Informationsfluss und die Interaktionen zwischen den verschiedenen Unterorganisationen zu verstehen.

 

Um zu erkennen, an wen die größte Informationsmenge weitergeleitet wird und wen es somit als wichtigen Knotenpunkt des Netzwerks auszuhebeln gilt, haben die Forscher eine Messmetrik namens "Betweeness Centrality" verwendet. Diese erlaubt es, jene Knoten ausfindig zu machen, die eine entscheidende Rolle bei der Informationsverbreitung zwischen den verschiedenen Segmenten des Netzwerks spielen, so genannte Brückenknoten.

 

Gemessen wird nicht unbedingt der kürzeste, sondern der effektivste Weg zur Erreichung des vom Auftraggeber gesetzten Ziels, z.B. eines Mordes. Das Verständnis für zentrale Knoten im Graphen (diejenigen mit einem höheren Betweeness Centrality-Maß) hilft der Polizei bei der Entscheidungsfindung, wer wann festgenommen werden soll und ob mehrere Knoten in einer Razzia zeitgleich getroffen werden sollen. „Dadurch kann die Polizei die Kommunikation im Netzwerk mit hoher Wahrscheinlichkeit signifikant unterbrechen, auch wenn sie vielleicht nicht den Chef verhaftet, weil dieser nur über vertrauenswürdige Mittelsmänner im Netzwerk auftaucht“, betont Liotta. „Wenn die Polizei Schlüsselelemente isoliert, gewinnen die Strafverfolgungsbehörden Zeit, den Anführer zu verfolgen, was eine Wiederherstellung des kriminellen Netzwerks maßgeblich reduziert."

 

U.S.-amerikanisches Interesse und zweite Studie über kriminelle Organisationen

Die Studien von Liotta und den Professoren haben auch das Interesse von Forschern in den USA geweckt, welche die kriminellen Mafianetzwerke auf amerikanischem Boden untersuchen. „Einige Kollegen haben uns nach unseren Stichproben krimineller Netzwerke gefragt und stellen nun vergleichende Studien mit US-Datensätzen an", so der Professor der unibz. „Wir haben versucht, eine ähnliche Anfrage an andere Institutionen zu stellen, bisher ohne Erfolg. Wir möchten unseren Forschungshorizont in Richtung anderer Organisationsformen ausweiten." Liotta und seine Kollegen haben dies zum Teil bereits mit ihrer zweiten Arbeit "Criminal Networks Analysis in Missing Data scenarios through Graph Distances" vollzogen. In dieser Arbeit verglichen die Autoren neun völlig unterschiedliche kriminelle Netzwerke: neben der sizilianischen Mafia auch 'Ndrangheta-Clans, Drogenhändlergruppen in Quebec, Stockholmer Straßenbanden und die im Süden der Philippinen aktive terroristische Gruppe Abu Sayyaf.

 

Auf Datensätzen, die sie von denjenigen zur Verfügung gestellt bekamen, die Wissensgraphen der oben genannten Organisationen erstellt hatten, entwickelten Liotta und Kollegen Algorithmen, die es ihnen ermöglichen, ein "synthetisches" kriminelles Netzwerk zu generieren, das an eine Organisation angepasst werden kann, über die sie wenig Informationen haben. „Mit diesen Algorithmen nähern wir uns dem Modell eines neuen, aufzubrechenden Netzwerks. In einem zweiten Schritt bestimmen wir die besten operativen Strategien, um Schlüsselpersonen zu enttarnen und den Informationsfluss zwischen den Knoten zu verlangsamen", erklärt er.

 

Obwohl die Ergebnisse des Einsatzes dieser Algorithmen eine Verfeinerung der Suche nach versteckten Knoten in den Netzwerken ermöglichen, gibt es noch viel zu tun, damit sie Ordnungskräfte auf der ganzen Welt schnell einsetzen könnte. Der Erfolg ist gekoppelt an verfügbare operative Daten, die normalerweise durch das Ermittlungsgeheimnis geschützt sind. Prof. Antonio Liotta arbeitet bereits mit verschiedenen Forschungsgruppen an der Entwicklung von Techniken zur Anonymisierung sensibler Daten, um eine direktere Zusammenarbeit zwischen der Universität und den Sonderermittlungseinheiten der Polizei zu ermöglichen.

 

Originalveröffentlichungen:

https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0236476

https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0255067

 

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